Ein virtuelles Anlagenabbild optimiert die betriebliche Wertschöpfungskette.

 

von Frank Berger

 

Einzelne Prozesse und Funktionsbereiche in einer Wertschöpfungskette wurden durch die Jahrhunderte hindurch dank verbesserter Abläufe und Technologien durchweg effizienter. Doch dieser traditionelle Weg stößt früher oder später an seine Grenzen. Der Grund: Optimierungspotenzial geht verloren, da zumeist nur einzelne Funktionsbereiche analysiert werden. Gelingt es dagegen, die Daten weiterer Funktionsbereiche vollumfänglich zu verbinden, können Prozesse in einem systemübergreifenden Umfang analysiert und verbessert werden. Dahinter verbirgt sich der digitale Zwilling als perfektes virtuelles Ebenbild der Wirklichkeit. Und dieser hat ein erhebliches Optimierungspotenzial zur Folge.

Effizienzsteigerung industrieller Abläufe

Unter einem immer größer werdenden Wettbewerbsdruck und getrieben von wirtschaftlichem Wachstum suchen Industrieunternehmen in der heutigen Zeit ständig nach neuem Potenzial, um ihre gesamte Wertschöpfungskette zu optimieren. Durch den Einsatz bereits stark ausgereifter Systeme und Technologien bieten sich stets neue Möglichkeiten, Prozesse zu verbessern und daraus resultierend die Produktivität im Unternehmen zu steigern. Ist dieses Optimierungspotenzial jedoch erst einmal ausgeschöpft, können durch die intelligente Kombination sogenannter Basistechnologien weitere Verbesserungen erzielt werden.

So lässt sich dank der Vernetzung von Datenhaltungssystemen einzelner Funktionsbereiche im Unternehmen die gesamte Wertschöpfungskette weiter optimieren. Die Bereiche IT und OT (Information und Operational Technology) wachsen damit verstärkt zusammen: In den letzten Jahren partizipieren dadurch nicht nur Interessengruppen aus den technischen Bereichen wie Elektro- oder Verfahrenstechnik, Prozessautomatisierung und Instandhaltung, sondern auch die kaufmännischen Einheiten bis hin zum Management an den Vorteilen einer vernetzten Systeminfrastruktur.

Diese Verschmelzung der Systemlandschaft gewinnt zunehmend an Relevanz und legt den Grundstein für ein vollständig digitales Abbild einer Industrieanlage – den digitalen Zwilling oder auch Digital Twin genannt. Allerdings zwingt die Realisierung Entscheider zu bisher ungewohnten Vorgehensweisen und stellt das gesamte Unternehmen vor neue Herausforderungen.

 

Abb. 1: Dank virtuellem Anlagenabbild wird die Wertschöpfungskette noch effizienter. Quelle: Actemium

Vernetzte Infrastruktur

Bereits während der Designphase von Industrieanlagen entstehen durch modernste Planungssysteme Unmengen an digitalen Informationen. Ab dem Zeitpunkt der Inbetriebnahme werden zudem relevante Produktionsdaten gesammelt, die aber oftmals ungenutzt in sogenannten Datengräbern schlummern.

Aber nicht nur die technischen Einheiten, sondern auch andere Funktionsbereiche im Unternehmen erzeugen und speichern kontinuierlich Anlagendaten. Damit entsteht am Ende nicht selten ein bunter Blumenstrauß aus gängigen Systemen namhafter Hersteller gespickt mit zum Teil selbst entwickelten Insellösungen der internen IT. Dabei hat jedes System fast immer seine Daseinsberechtigung und steuert die ihm zugehörigen Prozessabläufe zur Zufriedenheit des Anwenders. Jedes Einzelne für sich bedient dabei aber nur einen kleinen Teil des gesamten Betriebsszenarios.
Andere Unternehmen wiederum verfügen nur begrenzt oder gar nicht über digitale Daten ihrer Anlagen. In diesen Fällen besteht die Herausforderung zunächst darin, Daten digital zu erfassen, um erst einmal eine Basis für einen digitalen Zwilling zu schaffen.

Doch ein vollständig digitales Abbild der Industrieanlage wird am Ende nur durch die intelligente Vernetzung der zahlreich vorhandenen Systeme erzeugt und ermöglicht damit, alle industriellen Prozessabläufe während des gesamten Anlagenlebenszyklus von der Planung über Betrieb bis hin zur Wartung und Instandhaltung effizient zu managen. Dabei ist es wichtig, dass auch Daten aus manuell durchgeführten Prozessen digitalisiert in das Gesamtsystem zurückfließen. Hierbei hat sich der Einsatz mobiler Endgeräte in den letzten Jahren stark etabliert, denn er verhindert zusätzlich Medienbrüche bei der Übertragung dokumentierter Tätigkeiten in die Systeme.

Systemkommunikation

Die Kommunikation zwischen den bestehenden Systemen im Unternehmensnetzwerk gestaltet sich oftmals als technische Herausforderung, da standardisierte Schnittstellen meist unzureichend oder nur für weit verbreitete Systeme namhafter Hersteller verfügbar sind. Gerade für die Vernetzung technischer und kaufmännischer Systeme müssen Schnittstellen meist mit einem hohen Programmieraufwand und finanziellen Einsatz individuell entwickelt werden.

Abhilfe kann hier die Integration einer unabhängigen Datendrehscheibe leisten, die als zentrale Einheit den bidirektionalen Datenverkehr innerhalb der heterogenen Systemlandschaft steuert. So werden alle Systeme und damit der digitale Zwilling immer auf dem neusten Revisionsstand gehalten. Zugleich gelingt dadurch auch eine automatisierte Rückdokumentation. Denn über die Datendrehscheibe werden die revisionierten Daten über vordefinierte Workflows an die entsprechenden Systeme verteilt. Der Vorteil: Ein manuelles Nachpflegen erübrigt sich, was Eingabe- bzw. Übertragungsfehler minimiert.

 

Abb. 2: Eine Datendrehscheibe steuert den bidirektionalen Datenverkehr.

Der digitale Zwilling

Der ursprüngliche Mehrwehrt eines digitalen Zwillings zur Simulation von Fertigungsabläufen, um mechanische Schäden an teuren Maschinen im Vorfeld abzuwenden, ist heutzutage viel weiter gefasst. Denn auch in der Prozessindustrie, zur Unterstützung aller Interessengruppen wie Produktion, Instandhaltung, Lagerwesen, Controlling oder Einkauf, dient das digitale Anlagenabbild.

So werden Komponenten im Zuge der Planung eines Anlagenneubaus ausgehend vom Planungssystem parallel in weiteren Systemen innerhalb der Infrastruktur erzeugt. Folglich werden damit auch Objekteigenschaften wie mechanische und elektrische Anschlussdetails, Hersteller-, Bestell-, Instandhaltungs-, Wartungs- oder gar Geoinformationen auf die anderen Systeme übertragen. Durch eine digitalisierte Rückführung von Informationen während der Inbetriebnahme in die Systemlandschaft wird zudem das spätere Erstellen einer AsBuild-Dokumentation überflüssig.

„In Summe liefert der digitale Zwilling dem Unternehmen einen erheblichen Mehrwert entlang der gesamten Wert­schöpfungskette.“

Das stets aktuelle Abbild kann nicht nur im Zuge eines Anlagenneubaus, sondern auch im weiteren Verlauf des Anlagenlebenszyklus großen Mehrwert liefern. So können der Einkauf von Materialien und Dienstleistungen sowie das Planen von Ressourcen und Abläufen bereits bei der Vorbereitung von Anlagenstillständen genauestens organisiert und koordiniert werden. Dank der vollständigen Datenverfügbarkeit entfällt auch die bisher im Vorfeld meist erforderliche Ist-Aufnahme des aktuellen Anlagenzustands im Zuge von Umbau- oder Erweiterungsmaßnahmen. Zudem gelingt es, Instandhaltungsabläufe noch während des Anlagenbetriebs vorausschauend zu planen, um Ausfallzeiten zu minimieren.

Regelmäßige Instandhaltungstätigkeiten können durch die Bereitstellung erforderlicher Informationen auf mobilen Endgeräten effizienter durchgeführt werden. Zukünftig kann der Einsatz von Augmented-Reality-Technik zudem das Personal dank im Sichtfeld eingeblendeter Informationen weiter unterstützen: beispielsweise bei der Navigation in der Anlage oder durch die virtuelle Bereitstellung von Objektinformationen wie Planungsunterlagen, Bedienungsanleitungen, Wartungsinformationen, Betriebszuständen oder Trainingsvideos. Folglich werden Aufgaben einerseits erleichtert und andererseits effizienter erledigt. Auch dem zunehmenden Personalengpass wirkt man damit entgegen.

In Summe liefert der digitale Zwilling dem Unternehmen einen erheblichen Mehrwert entlang der gesamten Wertschöpfungskette und während des kompletten Anlagenlebenszyklus durch schnelle, durchgängige und damit insgesamt schlanke Prozesse.

 

Kernaussagen
Bereits während der Designphase von Industrieanlagen entstehen durch modernste Planungssysteme Unmengen an digitalen Informationen.
Das stets aktuelle Abbild kann nicht nur im Zuge eines Anlagenneubaus, sondern auch im weiteren Verlauf des Anlagenlebenszyklus großen Mehrwert liefern.
In Summe liefert der digitale Zwilling dem Unternehmen einen erheblichen Mehrwert entlang der gesamten Wertschöpfungskette und während des kompletten Anlagenlebenszyklus durch schnelle, durchgängige und damit insgesamt schlanke Prozesse.
Die Realisierung stellt die Entscheider vor bisher ungewohnte Vorgehensweisen und das gesamte Unternehmen vor neue Herausforderungen. Es empfiehlt sich ein „Step by step“-Vorgehen.

Abschluss / Empfehlung

In Zeiten immer kürzer werdender Produktlebenszyklen gilt es, gerade beim Einsatz neuer innovativer Technologien schnelle Ergebnisse zu erzielen, um jederzeit eine Kurskorrektur vornehmen zu können und den technologischen Anschluss nicht zu verlieren. An dieser Stelle erhalten bereits etablierte Methoden zur Umsetzung von IT-Projekten den Einzug in die industrielle Welt und zwingen Entscheider dazu, ihre gewohnten Vorgehensweisen zu hinterfragen. Top-down-Ansätze sowie lange Planungsphasen, wie man es in der Regel gewohnt ist, sollten dabei gegen agile Methoden ersetzt werden, um diese neuen Herausforderungen zu einem erfolgreichen Abschluss zu bringen.

Entgegen dem Ansatz „Think Big“ ist auf dem Weg zu einem lückenlosen digitalen Zwilling ein eher verhaltenes Vorgehen angebracht. Direkt von Beginn an das Große und Ganze zu betrachten, führt bereits im Vorfeld zu kaum beherrschbarer Komplexität sowie einem hohen zeitlichen Aufwand. Oftmals gerät dabei auch der eigentliche Nutzen und zu guter Letzt der Endanwender völlig aus dem Visier. Doch am Ende steht genau er als Indikator für einen erfolgreichen Einsatz. Kurze und finanziell überschaubare Prototypen bezogen auf einen kleinen Anwendungsfall liefern dagegen das benötigte Ergebnis. //

 

 

 

Autorenvita Frank Berger

 

 

 

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